Die Nacht der Nächte

„Irgendwann mußt du nach Biel“, dieser Buchtitel von Werner Sonntag beschäftigte mich schon seit vielen Jahren. Im Ausdauersport hat der 100km - Lauf in Biel (Schweiz) einen besonders hohen Stellenwert, gilt er doch seit über 40 Jahren als die Wiege des Ultralanglaufes. Bereits 18 Jahre laufe ich als Freizeitsportler durch die Wälder und Flure unserer Stadt Brandenburg. Läuferische Höhepunkte waren bisher die Teilnahme an verschiedenen Marathonläufen. Bis zum 11./12. Juni galten diese für mich als die größten sportlichen Herausforderungen. Doch dann erfüllte ich mir einen lang gehegten

Traum:

Pünktlich am Freitagabend 22.00 Uhr ertönt der Startschuß zur 41. Auflage des 100 km - Laufs. Verflogen sind in diesem Moment all die Anspannung, die letzten Zweifel, die vielen Fragen wie wird es mit der Dunkelheit, den Bergen und natürlich habe ich ausreichend trainiert... Die im Hotel vergessene Taschenlampe war in diesem Moment schon nicht mehr belastend. Die Masse der 2200 Läufer kommt auf dem dunklen Asphalt in Bewegung: langsam, drängend und chaotisch zuerst, dann jedoch finden die Läufer schnell ihren Rhythmus, genießen die Bewegung, wenn auch von Anfang an mit gebremsten Schaum. Begeisterte Zuschauer säumen die Straßen, ihre Zurufe, ihr Klatschen vertreiben in mir den Rest der ängstlichen Erwartung vor dieser langen Nacht. Die Augen adaptieren sich langsam, der Tritt wird sicherer. In unregelmäßigen Abständen tauchen am Wegrand kleine blinkende Taschenlampen auf, die uns mit ihrem Licht eine Orientierung liefern, so daß wir uns auch in dieser finsteren Nacht ohne Mondlicht (Neumond) zurechtfinden.

Schon taucht der erste Verpflegungsposten auf - mit Wasser, Tee, Bouillon, isotonische Getränke, Brot, Bananen, Apfel und Schokolade will man uns in dieser Nacht am Laufen halten. Ein kleines Dorf bringt helles Licht, wärmenden Beifall und erlaubt einen orientierenden Blick auf die Uhr: ich laufe nach Plan mit 6 Minuten pro Kilometer und bin zufrieden. Bei km 17 erwartet uns eine überdachte Holzbrücke, auf der die Bewohner Aarbergs dichtgedrängt versammelt sind und unseren Einlauf in ihr reizendes Städtchen feiern. Wir gelangen durch Straßen mit herrlichen Fachwerkhäusern mit festlicher Illumination, die auf mich wie die Kulisse aus einer anderen Welt wirken. Dieser Lichtpunkt sollte für die nächsten 5 Stunden in tiefster Dunkelheit auf die Läufer ausstrahlen. Von nun an heißt es locker die vor uns liegenden Kilometer abzuspulen. Alle 5 km gibt es eine Ausschilderung. Seit Aarberg sind auch begleitende Fahrradfahrer zugelassen. Dadurch hat man manchmal das Glück im Lichtkegel der Bikes den Weg bzw. den vor einen laufenden Sportskollegen zu erkennen. Hilfreich auch die vielen blinkenden Rücklichter, die wie ein rotes Band die Orientierung für den weiteren Weg andeuteten. Ein Lindwurm gleich zieht sich nun die Läuferkette über sanfte Hügel, vorbei an einsame Höfe, wo mittlerweile die Bewohner zu Bett gegangen sind.

Ein weiterer Höhepunkt verheißt mir die 50 km-Markierung in einem kleinen Ort. Die Halbe-Weg-Markierung gibt mir wieder Auftrieb und ich komme ohne größere Schwierigkeiten nach Kirchberg, wo die Angstetappe beginnen soll und begebe mich auf den Emme-Deich-Weg, auch Ho Tschi Minh-Pfad genannt - nicht zu unrecht, wie sich bald zeigt. Der Belag des Dammes besteht aus großen runden Flußkieseln, die jeden Tritt zur Qual und zum Risiko werden lassen - alternativ kann man seitlich versetzt im Schlamm stapfen und muß dabei aufpassen, nicht abzurutschen. Dieser Abschnitt reicht von km 60 -70. Die Morgendämmerung graut mittlerweise - die Begleitfahrräder sind hier nicht zugelassen. Die Beine sind schwer und erscheinen kraftlos. Hier wird mir nochmals klar, daß der Lauf im Kopf entschieden wird, ich weiß, daß ich durchhalten will und durchhalten werde! Bei km 70 hat die Tortur ein Ende: Ich verlasse das Flußtal und habe einen 12 km langen leichten Anstieg vor mir.

Ein unangenehmer Abstieg läßt die Oberschenkel zittern; ich traue den Beinen diese Kontrolle nicht mehr zu und muß kräftig bremsen.

Bei km 85 erwartet mich Martina mit dem Fahrrad und kann als Begleitung bis zum Ziel dabei sein. Neben der moralischen Unterstützung, gelingt es dadurch noch entscheidende Abschnitte mit dem Fotoapparat festzuhalten.

Im Tal der Aare geht es nun auf die letzen 12 km. Ich konzentriere mich ganz auf mein Ziel und male mir den Zieleinlauf aus. Die schon hoch stehende Sonne heizt alle kräftig ein: ich kann mein langärmliges Laufshirt ausziehen und habe die Gewißheit, das hier nichts mehr anbrennen kann. Der Bahndamm wird unterquert, das Ziel ist in Sicht! Die letzten 1000 m liegen an und plötzlich verfliegen alle Schmerzen, die Beine werden leicht und locker. Mit entspannten, langen Schritten biege ich in die Zielgrade ein, der Beifall rieselt warm den Rücken herab, das Ziel ist in Sicht - und passiert.

Ich fühle mich wie ein Sieger, genieße den persönlichen Triumph, der mir gehört und mir bleibt. Auf der Urkunde wird mir als Gesamtplazierung der 729. Rang bestätigt (12:33 h).

Es bestätigte sich für mich, daß der 100km-Lauf von Biel einmal mehr seinen legendären Ruf als einer der härtesten Herausforderungen im Ausdauerlaufbereich gerecht wurde. Die Eindrücke der Nacht, entlang einsamer Wege, das immer sich wiederholende Eintauchen in die Lichter- und Zuschauermassen in den Dörfern, verstärken die Eindrücke der Einmaligkeit dieses Laufes.

Detlev Voigt